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Helmut Scholz, MdEP
Zwischen Zeuthen und Brüssel, Ausgabe 39, 17. Dezember 2021
Das Jahr 2021 - eine Bilanz

Liebe Leserin, lieber Leser,

das Jahr zwei der Pandemie.

Auch 2021 hat uns Corona in Atem gehalten - und zwingt uns weiter zu Überlegungen und konkreten Schlussfolgerungen, wie wir in Zukunft mit dem Virus leben werden.  Ich brauche Ihnen an dieser Stelle nicht zu sagen, wo und wie sich die globale Pandemie ausgewirkt hat. Sie haben es selbst erlebt – in Ihrem Arbeitsleben und privatem Umfeld, bei Kontaktbeschränkungen, Quarantäne oder Homeoffice. Möglicherweise haben Sie in ihrem Familien- und Freundeskreis Menschen, die sich infiziert haben und von denen ich hoffe, dass sie vollständig von der Erkrankung genesen sind.

Auch wir Abgeordnete des Europäischen Parlaments waren das zweite Jahr in Folge in unserer parlamentarischen Arbeit von der Pandemie betroffen. Sie haben es in meinen Newslettern wie in einer Chronik verfolgen können: Erst erfolgten die Sitzungen, Beratungen und Treffen rein digital, dann wiederum hybrid – also in Präsenz und digital – schließlich in Anwesenheit und seit einigen Wochen abermals „aus der Ferne“ – manchmal alles „gemischt“ und mit Überschneidungen. Auch wenn wir uns an diesen Arbeitsstil inzwischen gewöhnt haben: Im direkten, persönlichen Kontakt lassen sich viele Fragen effizienter regeln. Und der unmittelbare Gedanken- und Meinungsaustausch mit den Wähler*innen und Menschen „vor Ort“ fehlt mir sehr. Wann konnte ich schon in den Bürger*innenbüros Veranstaltungen organisieren, Sprechstunden abhalten oder auch mit meinen fleißigen Wahlkreismitarbeiter*innen mal ein „Brainstorming“ machen, um auszuloten, wie wir mehr direkte Demokratie auch praktizieren können?

Aber auch das war das Corona-Jahr Nummer 2: Seit Jahresbeginn gibt es die Impfstoffe, die vor der Erkrankung schützen und, soweit bis heute bekannt ist, auch bei der Omikron-Variante schwere Verläufe verhindern. Sich gegen das Virus impfen zu lassen, halte ich für die richtige Entscheidung – sowohl für jede*n selbst, als auch zum Schutz der Gemeinschaft und zur Arbeitserleichterung des völlig überlasteten Pflegepersonals.

Sie wissen aber ebenso, dass mir in dieser Hinsicht in meiner Arbeit – und auch ganz persönlich – ein Aspekt besonders wichtig ist: Es darf nicht sein, dass wir im Globalen Norden die Impfstoffe zu Verfügung haben, in den sogenannten Entwicklungsländern diese Vakzine aber fehlen. Zwar gibt es in einigen Regionen deutliche Fortschritte. Gerade der afrikanische Kontinent aber bleibt bei der Immunisierung mangels Impfstoffen das Schlusslicht. Dort werden nur Marokko und Tunesien das von den UN ausgegebene Ziel, bis Jahresende 40 Prozent der Bevölkerung vollständig zu impfen, erreichen. Sogar das relativ gut entwickelte Südafrika wird nur knapp 30 Prozent umsetzen; in vielen Staaten liegt die Quote weiter im einstelligen Bereich.

Es ist ganz klar: Der sogenannte Waiver, also eine befristete Aufhebung des Patentschutzes für Covid-Impfstoffe, muss nun endlich Realität werden. Das ist einerseits eine Frage der Humanität und globalen Solidarität. Ebenso ist andererseits unbestritten, dass die Pandemie nicht in den Griff zu bekommen sein wird, wenn der größte Teil der Menschheit, eben der Globale Süden, von Impfungen praktisch abgeschnitten ist, wie immer sich die Infektionswellen regional und zeitlich auch darstellen. Und ich wiederhole es, so oft es noch nötig sein wird: Wenn Patente dem Überleben im Wege stehen, ist es höchste Zeit, den Weg freizumachen. Warum sich die EU weiterhin gegenüber einer Patentfreigabe sperrt, ist schlicht nicht mehr nachvollziehbar. Zumal es ja gar nicht um einen Verzicht auf Patente geht. Das sind fake news. Es geht um die befristete Patentfreigabe (Trips Waiver). Damit würden auch weder „die Forschung abgewürgt“ noch der ohnehin extrem große Gewinn der Pharmabranche wesentlich geschmälert.

Dabei haben gerade wir als Linke viel erreicht im Kampf für die befristete Freigabe der Impfstoffpatente. Die Entscheidung des Europäischen Parlaments im November zur Patentfreigabe, mit überdeutlicher Mehrheit getroffen, ging ganz wesentlich auf die Initiativen unserer Fraktion zurück. Dieser Ruf sollte endlich bei den Spitzen der EU gehört werden. Beim Europäischen Rat am Donnerstag wurde betont, dass die EU entschlossen sei, ihre Rolle beim Erreichen einer weltweiten Durchimpfung wahrzunehmen. Das klingt erst einmal gut. Aber es geht eben nicht nur um Lieferung von Impfdosen, zumal die Logistik dabei oft – und zurecht – insbesondere von afrikanischen Staaten kritisiert wurde. Also: Wäre Weihnachten nicht ein trefflicher Zeitpunkt für die EU, ihre Blockade der zeitweiligen Patentfreigabe endlich aufzuheben? Und ein deutliches Zeichen im Trips-Rat der WTO zu setzen? Das wäre eine wirkliche, solidarische Weihnachtsbotschaft und ein gutes, rasch umsetzbares Vorhaben für 2022!

Ich und meine Kolleg*innen in der Fraktion THE LEFT (ich weiß, der Esel geht immer voran...)  werden in diesem Sinne auch 2022 für globale Gerechtigkeit streiten -  es gibt viel zu tun, und die am 1. Januar 2022 beginnende französische EU-Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr verspricht da mit ihren Ankündigungen und Plänen auch der Delegation DIE LINKE im Europäischen Parlament und all ihren Abgeordneten und Mitarbeiter*innen in Fraktion und den Büros in Brüssel/Strasbourg sowie in den Wahlkreisen genügend Arbeit. An dieser Stelle möchte ich gerade auch ihnen einmal ausdrücklich für die Unterstützung meiner Arbeit danken - ohne sie würde vieles nicht geschafft werden und möglich sein, was ein Abgeordneter sich vornimmt oder auf andere Entwicklungen reagieren muss - und wünsche ihnen, vor allem aber Ihnen eine gute Weihnachtszeit, für die Zeit zwischen den Jahren genügend Muße und Zeit zum Aufladen der Batterien, Gesundheit und natürlich einen guten Rutsch ins 22er!

 

Ein gesundes, friedliches neues Jahr!

Ihr Helmut Scholz 

Handelspolitik am Scheideweg: Kriegsgefahr oder Nachhaltigkeit
Jahresrückblick: meine Arbeit im Ausschuss für Internationalen Handel (INTA)

Das Jahr 2021 neigt sich seinem Ende entgegen. Die Pandemie hat uns ein weiteres Jahr aufgezeigt, dass unsere täglich verwendeten Güter und Dienstleistungen aus global miteinander verknüpften Arbeitsschritten hervorgehen. Wohl nie zuvor waren die Gesellschaften der Welt und ihre Ökonomie so intensiv miteinander verwoben. Und wohl auch noch nie  zuvor wurde in den entwickelten Industriestaaten der OECD so wahrnehmbar und erlebbar, dass gerade die Auslagerung von Produktionen aus Kostengründen im Interesse einer Realisierung höchstmöglicher Steigerungen der Unternehmensgewinne langfristig negative Folgen für die Wertschöpfung in traditionellen Wirtschaftsräumen und neue Abhängigkeiten geschaffen hat, weil sich die wirtschaftlichen und industriellen Entwicklungen in anderen Regionen der Erde im Zuge der Globalisierung und der Erarbeitung eigener selbstbewusster volkswirtschaftlicher Strategien veränderten.

Ein Trend des Jahres 2021 in der Politik betont die vermeintliche Notwendigkeit, die Ökonomien wieder zu entkoppeln. Stichworte dafür sind „Stärkung der wirtschaftlichen Widerstandsfähigkeit und Unabhängigkeit“ (resilience) und „Eigenständigkeit“. Richtig, wenn es um die Bewahrung z.B. öffentlicher Güter geht - wie Gesundheitsfürsorge und das Schaffen und dauerhafte Erhalten ausreichender Kapazitäten für die medizinische Versorgung der Bevölkerung hierzulande wie in allen anderen EU27-Mitgliedstaaten, auf solidarische Art und Weise. Fragwürdig aber schon dann, wenn wir nur einmal bei diesem Beispiel des Gesundheitssektors bleiben, wenn „Eigenständigkeit“ wiederum nur in Bezug auf eigene wirtschaftliche und marktbeherrschende Positionen definiert wird. Wir entscheiden wie viele und welche Impfstoffeinheiten in andere Länder gelangen, selbst in einer Pandemie. Und ignorieren den Ruf von mehr als 120 Mitgliedstaaten in der Welthandelsorganisation (WTO) nach zumindest zeitweiser Patentaufhebung. Ich habe davon berichtet. Generell zeigt sich mit der neuen Strategie, dass eine solche Entkoppelung gnadenlos die Abhängigkeit anderer forciert. Die USA nennen das unverblümt „Buy American First!“ Die EU nennt es vornehmer „Offene Strategische Autonomie“. Ohne genau zu definieren, was dies nun konkret wirtschafts- und handelspolitisch heißt. Auch China orientiert sich zunehmend auf seinen eigenen Wirtschaftsraum und verengt damit Spielräume ausländischer Unternehmen auf diesem großen Binnenmarkt, was wiederum, als Beispiel, gerade deutsche Unternehmen unter Druck setzt. Und so entrollt sich seit Mitte des Jahres eine ganze Karte neuer geowirtschaftlicher und geopolitischer Facetten, die weitreichende Auswirkungen auf unseren Alltag haben und sicher noch mehr bekommen werden.

In diesem Ringen um strategische Positionen werden gerade vom Europäischen Parlament, v.a. bei Teilen der wertkonservativen und rechtsextremen Parteien, aber auch von Grünen und S&D die bestehenden Abhängigkeiten von der Volksrepublik China und von Gaslieferungen aus Russland als „gefährlich“ charakterisiert und so wird es auch immer mehr im EU-Rat und seitens verschiedener Generaldirektionen in der EU-Kommission gesehen, denn es tönt auch nach der Abwahl von Donald Trump noch immer so über den Atlantik und dieses Lied wird in Europa von immer mehr Stimmen nachgesungen.

Während wir zu Beginn des Jahres 2021 noch am meisten darüber diskutierten, wie es gelingen kann, gemeinsam in allen Ecken unseres Planeten und miteinander die Pandemie überwinden können, beenden wir das Jahr 2021 mit Truppenaufmärschen Russlands und Militärübungen der NATO und relativ offenen Drohungen. Eine Fregatte der deutschen Marine schippert im chinesischen Meer und der US-Kongress bewilligt Hunderte von Milliarden Dollar nicht zur Pandemiebekämpfung, sondern für Schiffe und Flugzeuge, mit denen alte Konfrontationslogiken fortgesetzt und Feindbilder neu belebt werden, die eine so dringend notwendige grundsätzliche Neuausrichtung internationaler Zusammenarbeit verhindern.

In diesem Kontext noch einmal zur Forderung nach Entkoppelung unserer Wirtschaft von China und Russland. Ich halte die Forderung nach Entkoppelung für falsch. Zum einen bedeutet Handel immer auch, dass miteinander kommuniziert wird und starke wirtschaftliche Verflochtenheit reduziert die Kriegsgefahr. Noch hat Russland z.B. ein elementares wirtschaftliches Interesse, die Kunden seiner Gaslieferungen nicht zu verlieren. Aber das ist nur der Status quo, denn zugleich ermöglicht wirtschaftliche Verflechtung vielmehr auch gemeinsame Verantwortungsübernahme für einen sozial-ökologischen Umbau, neue Formen der Energieerzeugung beispielsweise, die dem Auftauen der Permafrostböden und Abholzung der Urwälder in der nördlichen Hemisphäre entgegenwirken müssen. Warum hier nicht ansetzen? Die Zeit drängt. Zum anderen ist es uns wichtig, bei jedem Produkt, das durch Handel auf unseren europäischen Markt kommt, darauf zu achten und entsprechende Standards und Regeln - für uns Linke müssen diese verbindlich und durchsetzbar sein - festzulegen, unter welchen Bedingungen es produziert wurde. Und ich erlebe breite Bereitschaft im Parlament, aber auch weit darüber hinaus, dass das, was wir Linke seit Jahren predigen, in einer vom Erleben von Klimawandel, Artensterben und Pandemien sensibilisierten politischen Landschaft plötzlich Durchsetzungschancen erhält.

Den Anfang haben wir auf europäischer Ebene mit der Verordnung gegen die Einfuhr von Konfliktmineralien gemacht. Sie trat am 21. Januar 2021 in allen EU-Mitgliedstaaten in Kraft. Damit wurde erstmals eine Sorgfaltspflicht von Unternehmen für ihre Lieferketten gesetzlich definiert. In politisch instabilen Gebieten wird der Handel mit bestimmten Mineralien leider oft zur Finanzierung bewaffneter Gruppen, zur Förderung von Zwangsarbeit und anderen Menschenrechtsverletzungen sowie zur Unterstützung von Korruption und Geldwäsche verwendet. Wenn diese sogenannten „Konfliktmineralien“ wie Zinn, Wolfram, Tantal und Gold von europäische Unternehmen gekauft wurden, können sie uns in Alltagsprodukten wie Handys und Autos oder in Schmuck begegnen. So werden wir ungewollt zu Komplizen der Mörderbanden. Das neue Gesetz nimmt Unternehmen, v.a. jene mit mehr als 500 Mitarbeiter*innen nun in die Verantwortung, das Geschäftsmodell zu zerstören. Aber da ist noch weiterer Handlungsbedarf, denn warum nur diese 4 Metalle, was ist mit Lithium und seltenen Erden Metallen, die ebenso wichtig sind für die hoch-technologischen Produktionen einer Wirtschaft im Digitalen Zeitalter.

Im März 2021 hat das Europäische Parlament mit seinem neuen Instrument, dem legislativen Initiativbericht, die Europäische Kommission mit großer Mehrheit aufgefordert, das Prinzip der Sorgfaltspflicht von Unternehmen für ihre Lieferketten auf alle Branchen auszudehnen. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat persönlich vor dem Parlament zugesagt, den geforderten Gesetzentwurf zu liefern. Der für Unternehmensrecht zuständige EU-Kommissar Didier Reynders ließ einen Entwurf erstellen, der von meinen Kooperationspartner*innen in der Zivilgesellschaft sehr gelobt wurde. Er wäre erheblich wirksamer gewesen als das von der Lobby und der CDU weichgespülte Lieferkettengesetz in Deutschland und auch als das von Frankreich. Ein trauriger Beweis, dass der Entwurf gut war, besteht darin, dass der für Industriepolitik zuständige EU-Kommissar Thierry Breton einen Einspruch erhob.

So begann ein Tauziehen innerhalb der Kommission, wie es wohl auch Peter Altmaier gefallen hätte. Schon dreimal wurde der angekündigte Termin zur Vorstellung des Gesetzentwurfs verschoben. Genervt kündigte die niederländische Regierung gerade an, nun doch nicht mehr auf die EU Kommission warten zu wollen und nun doch ein eigenes Gesetz vorlegen zu wollen, mit dem man dann die Kommission antreiben könne.

Doch ich bin sicher: im ersten Quartal 2022 wird der Gesetzentwurf für das EU-weit gültige Lieferkettengesetz vorgelegt werden. Es wird ein Schwerpunkt meines Handelns sein, denn dieses Gesetz kann die Spielregeln der globalen Wirtschaftsbeziehungen nachhaltig verändern. Es ist ein Unterschied, ob Regierungen in ritualisierten Formen beteuern, auch das Thema Menschenrechte und den Umweltschutz angesprochen zu haben, oder ob Unternehmen und ihre Manager*innen direkt dafür verantwortlich gemacht werden können, wenn in ihren Lieferketten Menschen und Umwelt ausgebeutet werden. Das wird übrigens auch das Thema der Einfuhr von Produkten betreffen, die durch Zwangsarbeit hergestellt wurden.

Das Ringen darum, was am Ende im Gesetz stehen wird, findet im Europaparlament und im Rat der Regierungen der Mitgliedstaaten statt, und am Ende wird ein Kompromiss zwischen diesen beiden Institutionen auszuhandeln sein. Was auf diesem Weg erreicht werden kann, wird auch entscheidend davon abhängen, welcher Druck außerhalb des Parlaments aufgebaut werden kann. Ich, wir werden Sie brauchen. Bitte nutzen Sie Ihre eigenen Möglichkeiten. Schreiben Sie, organisieren Sie Veranstaltungen, berichten Sie weiter. Sie können sich immer gern an mich wenden, um den neuesten Stand zu erfahren oder mich in Ihren Veranstaltungen berichten und diskutieren zu lassen. Viele von uns haben während der Pandemie ja gelernt, mit den neuen Medien umzugehen und ortsunabhängig Diskussionen zu führen.

In diesem Sinne freue ich mich auf ein weiteres engagiertes Jahr 2022.

Demokratiedefizit bekämpfen
Jahresrückblick: meine Arbeit im Ausschuss für konstitutionelle Fragen (AFCO)

Trotz oder gerade wegen der Corona-Pandemie nahm die Arbeit im Ausschuss ziemlich Fahrt auf, wurden Initiativ- und Legislativberichte erarbeitet, viele Hearings zu unterschiedlichsten Aspekten der demokratischen Untersetzung des Integrationsraums EU durchgeführt, Studien in Auftrag gegeben und deren Ergebnisse diskutiert, um das unbestrittene und von vielen Bürger*innen in verschiedensten Bereichen wahrgenommene und beklagte Demokratiedefizit auszuloten und Gegensteuerungen einzuleiten.

Nicht direkt zu diesen Themen, aber als rechtlich notwendige Voraussetzung zur Erhaltung der Arbeitsfähigkeit gehörte die endgültige Annahme der an die Pandemie-Bedingungen angepassten Geschäftsordnung des Europarlaments und schloss monatelange Arbeiten der entsprechenden Arbeitsgruppe des Ausschusses mit der Plenarabstimmung ab. Und schon deutet sich an, dass wir da 2022 wohl erneut ranmüssen. Denn die parlamentarische Arbeit teils in Präsenz, teils in hybrider Form, also mit Fernteilnahmen an Debatten und Abstimmungen (!) mit Abgeordneten aus 27 Mitgliedsstaaten werfen neue Fragen auf: Wie kann lebendige parlamentarische Demokratie gelebt werden? Wie kann die so notwendige Verbindung der Abgeordneten zu ihren Wähler*innen während der Pandemie aufrecht erhalten werden? Das war „hausinterne“ Arbeit, wichtig hinsichtlich der rechtlichen Legitimation der Arbeit der Abgeordneten, aber sicherlich nicht sehr spannend für die Welt außerhalb des Parlaments. Ich wollte das hier nur einmal ansprechen, um deutlich zu machen: wir müssen uns auch um die Stärkung und Weiterentwicklung eigener „urdemokratischer“ Ansprüche des Funktionierens der repräsentativen Demokratie kümmern und Transparenz und Glaubwürdigkeit sichern.

Auch die Überarbeitung des Statuts und der Finanzierung der europäischen politischen Parteien und Stiftungen sind wir dieses Jahr angegangen.

Wir haben weiter auf der Dauerbaustelle der Einführung eines gesetzlichen Initiativrechts für das Europäische Parlament gearbeitet. Ursula von der Leyen hatte dem Parlament ihre Bereitschaft dazu bereits vor ihrer Wahl zur Kommissionspräsidentin versichert. Allerdings müssen da die legalen Möglichkeiten sehr präzise erforscht werden, damit das Initiativrecht auch ohne eine Änderung der EU-Verträge, die dafür eigentlich notwendig wäre, angegangen werden kann. Denn in vielen Mitgliedstaaten sind die Bürger*innen laut Eurobarometer-Umfragen mehrheitlich dafür. Meinen Einsatz dafür hatte ich bereits im Wahlkampf 2019 meinen potentiellen Wähler*innen versprochen. Also bleibe ich dran, und damit wird es auch Arbeitsthema für 2022 bleiben.

Zu den AFCO-Themen gehörten ferner die Einführung einer unabhängigen Ethik-Behörde, die Überarbeitung des Statuts des Bürgerbeauftragten der EU, die Verhandlungen zum Beitritt der EU zur Europäischen Menschenrechtskonvention, die zwar im Lissabon-Vertrag verankert, aber bislang wegen der komplizierten Rechtslage und mangelndem politischen Willen der Mitgliedsstaaten noch nicht erfolgt ist.

Wir feilen ferner an einer Wahlrechtsreform und insbesondere an den Fragen: wie gemeinschaftlich sollen die Europawahlen in 2024 ablaufen? Wiederum nur nach nationalem Duktus oder doch erstmals nach EU-weit gemeinsamen Kriterien und Maßstäben? Bislang sind Parlament und Verfassungsausschuss daran stets gescheitert. Ob es uns diesmal gelingt zumindest erste zaghafte transnationale Wahlaspekte einzuführen, wird sich Anfang 2022 zeigen.

Sie sehen: institutionelle und vertragliche Weiterentwicklungen sind sehr dicke Bretter, die es zu bohren gilt, und die unterschiedlichen Auffassungen zu dem einen oder anderen Vorschlag ziehen sich durch alle politische Fraktionen und nationalen Delegationen.

Lassen Sie mich noch eine weitere Aufgabe erwähnen: Der AFCO-Ausschuss war nach dem Brexit federführend für den Austrittsvertrag des Vereinigten Königreichs aus der EU. Wir haben intensiv an diesem Austrittsvertrag gearbeitet - mit der Unterstützung zahlreicher Bürger*innenbewegungen und NGOs, darunter den „British in Europe“ und „The 3 Million“ - um die negativen Auswirkungen des Brexits für alle Menschen in Europa soweit wie möglich zu reduzieren. Im Januar wird dazu die neue parlamentarische Versammlung EU-UK ihre Arbeit aufnehmen. Denn da geht es dann nicht nur um die Verantwortung für eine transparente und problembeseitigende Umsetzung des Austrittsvertrags, sondern vielmehr um die neuen Beziehungen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich.

Ein für mich unbestrittener Höhepunkt meiner parlamentarischen Arbeit in 2021 war aber zweifelsohne mein Initiativbericht zur Bürger*innenbeteiligung an der EU-Entscheidungsfindung. Der starke Zuspruch zu meinem Bericht durch alle pro-europäischen Fraktionen hindurch (537 Ja-Stimmen, 125 Nein-Stimmen und 33 Enthaltungen) zeigt, dass die Mehrheit der Abgeordneten eine demokratischere, bürger*innennahe und transparentere EU wollen. Wir können nicht nur von einer anderen EU sprechen, sondern müssen uns vor allem den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen und dem Anspruch der Menschen stellen, und sich für ihre Erwartungen und Vorschläge stark machen. Das ist ernst zu nehmen und wiederum in Schlussfolgerungen für das Funktionieren einer demokratischen, sozial gerechten und solidarischen EU widerzuspiegeln. Im Einklang mit den Grundprinzipien der repräsentativen Demokratie schlagen wir in dem Bericht daher unter anderem folgende Beteiligungsmechanismen vor:

  • die im Rahmen der EU-Zukunftskonferenz eingerichteten Mechanismen zur Bürger*innenbeteiligung sind zu einem dauerhaften Bestandteil machen;
  • Einführung von „Bürger*innenhaushalten“ und „Crowdsourcing“ zur direkten Beteiligung
  • Weiterverfolgung erfolgreicher europäischer Bürgerinitiativen, für die die Kommission erklärt, dass sie keine neuen Rechtsvorschriften vorschlagen wird, durch formell vom Parlament angenommene legislative Initiativberichte
  • Unterstützung „unorganisierter“ Zivilgesellschaft und Förderung ihres Zugangs zu Wahl- und Beteiligungsmöglichkeiten
  • Aufbau von zivilgesellschaftlichen- und Bürger*innen-Netzwerken sowie von Arbeitsmethoden (auch durch den Einsatz digitaler Instrumente), um alle Menschen, insbesondere die unterrepräsentierten, zu erreichen
  • Intensivierung politischer und gesellschaftlicher Bildungsprogramme

Im Januar werde ich diese Punkte in einem Meinungsaustausch mit der Kommissions-Vizepräsidentin für Werte und Transparenz, Věra Jourová, und Akteur*innen aus der organisierten Zivilgesellschaft, von Wissenschaftseinrichtungen sowie einiger Think-Tanks beraten, um konkrete Umsetzungsschritte unserer Forderungen festzulegen.

Bei Interesse können Sie den Bericht über den Bürger*innendialog und die Beteiligung der Bürger*innen an der Entscheidungsfindung in der EU hier lesen oder downloaden.

Vertragsänderungen zur Debatte stellen - Bürger*innen beteiligen!
Vorläufige Bilanz der Konferenz zur Zukunft Europas

Wie Sie aus dem Newsletter ja bereits wissen, war das große Thema, das mich das ganze Jahr über sehr beschäftigt hat, und sicherlich auch 2022 und darüber hinaus noch von Aktualität sein wird, die laufende Konferenz zur Zukunft Europas. Nicht mal so sehr ein Thema der Arbeit im AFCO, natürlich auch dort, sondern vielmehr horizontal, alle parlamentarischen Arbeitsprozesse betreffend.

Ziel der Konferenz ist eine breitest mögliche Aussprache (was sicherlich ein besserer Titel für dieses Unternehmen wäre, als die Bezeichnung Konferenz) mit den Bürger*innen zur mittel- bis langfristigen Zukunft der EU. Was funktioniert? Was nicht? Welche Themen und Belange europäischer Politik sind zu hinterfragen? Was zu betrachten? Welche Reformen sollten vorgenommen werden? Die nicht ganz einfach gestaltete Struktur dieser Konferenz, die eine Konferenz und keine repräsentative Institution sein soll und oft dahingehend missverstanden wird oder auch - je nach Betrachtung werden soll - bezieht Bürger*innen aus allen Mitgliedsstaaten, einschließlich vieler junger Menschen, die Zivilgesellschaft und die europäischen Institutionen als gleichberechtigte Partner*innen ein.  Ursprünglich für zwei Jahre geplant, ist sie auch von der Corona-Pandemie beeinträchtigt worden. Und es wird weniger Zeit zur Verfügung stehen, als ursprünglich erhofft. Zeit, die für eine Beratung der Problemlagen in die tiefe Substanz notwendig wäre. Dennoch eine bislang einzigartiges Unterfangen, denn eine gemeinsame Verantwortung von Europäischem Parlament, Europäischem Rat und Europäischer Kommission als gleichberechtigte, ihre Entscheidungen im Konsens zu treffende Partner, hat es so noch nicht gegeben. Was auch erhebliche Spannungen und andere Wahrnehmungen auf Politik in und mit der EU mit sich bringt.

Zugleich zeigt diese Ko-Verantwortung der drei wichtigsten EU-Institutionen und das vereinbarte Konsensprinzip bei anfallenden Entscheidungen (auch als Ausdruck des aktuellen Kräfteverhältnisses), dass es in der EU gewaltig knirscht. So wurden etwa vom Exekutivausschuss der Konferenz aus Pandemiegründen sowohl die Plenarkonferenz im Dezember abgesagt als auch mehrere Bürger*innenforen verschoben. Es konnte kein Konsens über eine Hybrid-Form ihres Stattfindens erreicht werden, was vor allem wir Vertreter*innen des Parlaments aber auch einzelner nationaler Parlamente sowie die Sozialpartner*innen im Exekutivausschuss (DGB) gefordert hatten. Ich persönlich glaube, dass dieses Weiter(ver)schieben inhaltlicher Diskussionen seitens einiger Vertreter*innen im EU-Rat vorgeschoben ist, um damit mögliche klare Debatten und konkret notwendige, und laut Geschäftsordnung auch zu ziehenden Schlussfolgerungen für ein konkretes Konferenzergebnis weiter zu verwässern. Wir müssen jetzt mit den Bürger*innen, die in der Konferenz selbst arbeiten, vor allem aber auch mit all jenen außerhalb auf nationaler und regionaler Ebene daran arbeiten, dass die Diskussionen intensiviert, ein wirklicher Arbeitsprozess entsteht und notfalls auch die Konferenz verlängert wird. Wir müssen die Zeit finden und sie uns nehmen, um einen ernsthaften Diskurs zu der breit gefächerten Agenda zu führen. Dazu gehört auch, die Empfehlungen, Vorschläge und Forderungen ernst zu nehmen. Nur so werden wir den berechtigten Erwartungen der beteiligten Bürger*innen gerecht.

Den europäischen Bürger*innenforen gehören Personen aus allen Mitgliedstaaten (± 200 zufällig ausgewählte Bürger*innen) an, und ihre Zusammensetzung ist repräsentativ für die Bevölkerung der EU, und zwar nicht nur im Hinblick auf das Geschlecht, sondern auch in Bezug auf das Alter, den sozioökonomischen Hintergrund, die geografische Herkunft und das Bildungsniveau. Ein Drittel der Teilnehmer*innen ist zwischen 16 und 25 Jahren alt.

In den europäischen Bürger*innenforen werden – auch auf der Grundlage von Beiträgen der digitalen Plattform - Aussprachen geführt. Die Bürger*innenforen befassen sich mit folgenden Themen: Demokratie in Europa, Werte und Rechte, Rechtsstaatlichkeit, Sicherheit; Klimawandel und Umwelt; Gesundheit; eine stärkere Wirtschaft, soziale Gerechtigkeit und Beschäftigung; Bildung, Kultur, Jugend und Sport; digitaler Wandel; die EU in der Welt; Migration sowie von Bürger*innen vorgeschlagene andere Themen.

Ein erstes der vier Bürger*innenforen hat nach drei Beratungsphasen von September bis Dezember seine Empfehlungen für die (Plenar)Konferenz nunmehr vorgelegt. So hatte am letzten Wochenende das Bürger*innenforum „Werte, Rechte, Rechtsstaatlichkeit und Sicherheit“ in Florenz auf das intensivste gearbeitet. Und ich muss sagen Hut ab: von morgens 08:30 bis abends 20:00 Uhr wurde zum Teil in kleinen Untergruppen in den 24 Amtssprachen der EU - verdolmetscht aus Brüssel - an den Empfehlungen gearbeitet. Ich durfte als Mitglied des Exekutivausschusses der Konferenz Mäuschen sein, also als Beobachter ohne inhaltliches Einmischen teilnehmen. Die 200 Bürgerinnen und Bürger haben dabei 42 Empfehlungen abgegeben. Davon erhielten 39 dieser Empfehlungen die notwendigen 70% oder mehr der Stimmen.  Dazu gehört unter anderem die Empfehlung, auf EU-Ebene eine ständige Bürger*innenversammlung auf Grundlage einer EU-Verordnung einzurichten. Die 20 Bürgerbotschafterinnen und Bürgerbotschafter dieses Gremiums treffen sich nun am 17. Dezember mit der dazugehörigen Arbeitsgruppe des Konferenzplenums, in der ich für unsere Fraktion mitarbeite. Im Januar - hoffentlich erlaubt das dann die Pandemielage - werden die 20 „Bürgerbotschafter*innen dann ihre 39 Empfehlungen dem Plenum vorstellen.

Und die drei anderen Bürger*innen-panel werden dann ihre verschobenen Arbeiten auch im Januar und Februar nachholen, damit der Gesamtprozess der Konferenz weitergehen kann.

Unsere Fraktion wird ihre begleitende Mitarbeit an der Zukunftskonferenz intensivieren und vor allem die digitale Plattform nutzen, um zu den verschieden Themen Beiträge und Vorschläge zur Debatte zu stellen und mit Argumenten und Kommentaren den Dialog dort und in der Öffentlichkeit zu intensivieren.

Das stimmt doch optimistisch für 2022, oder?

Hier können Sie mehr zu den Ideen und Empfehlungen der Bürgerinnen und Bürger zur Zukunft Europas einsehen.

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