Plenarrede von Lothar Bisky zur Lage der Europäischen Union: Mit Rückzug auf die Nation lösen wir kein Problem des 21. Jahrhunderts

28.09.2011

Während der Debatte im Europäischen Parlament sprach Lothar Bisky zur Lage der Europäischen Union und rechnete mit der fehlgeleiteten Politik der Regierungen ab:

(Es gilt das gesprochene Wort.)

"Herr Präsident, Herr Barroso,

die Europäische Union steckt in der schwersten Krise, seit ihrer Gründung. Es ist natürlich auch eine Finanz-, Wirtschafts- und Schuldenkrise. Es geht natürlich auch um Griechenland und den Euro.Die Mitgliedstaaten und die EU haben keine hinreichend wirkungsvollen Finanzmarktregeln aufgestellt. Die Politik droht deshalb zum Spielball der Spekulanten zu werden. Bisher getroffene Maßnahmen zielen auf Haushaltskonsolidierung durch Ausgabenkürzung. Konkret bedeutet das vor allem soziale Einschnitte - Kürzungen bei Löhnen und Transferleistungen, steigende Arbeitslosigkeit, sinkende öffentliche Investitionen, fallende realwirtschaftliche Entwicklung. Entscheidungen werden zunehmend auf intergouvernementalem Wege getroffen.mOhne vorherige Abstimmung mit Parlamenten - eher in Abstimmung mit Bankenchefs.

Damit verliert die EU zunehmend Vertrauen und Zustimmung. EU-skeptiker gewinnen an Boden. Das bedeutet: Wir stecken mitten in einer politischen, in einer Glaubwürdigkeitskrise. Da sind wir offenbar einer Meinung.

Herr Barroso, weder über die Analyse der Krisenursachen, noch über die besten Lösungsvorschläge, stimmen wir beide vollends überein.

Bei aller notwendigen Kritik betone ich aber, dass wir Linken uns unserer Verantwortung für die EU bewusst sind. Denn die Idee der Europäischen Einigung ist auch eine durchaus linke Idee, für die sich viele Linke in der Vergangenheit und der Gegenwart eingesetzt haben und einsetzen.

Wir werden sie verteidigen und auch in Zukunft nicht den Profitinteressen der "Märkte" und Spekulanten überlassen. Ich bin überzeugt, Europa braucht viel mehr Kooperation, statt weiteren Rückzug in nationale Interessen.

Europa braucht es eine solidarisch gemeinsam abgestimmte und demokratisch legitimierte Wirtschafts-, Fiskal- und Sozialpolitik.

Deshalb unterstützen wir Sie, Herr Barroso, wenn Sie endlich die versprochenen und von diesem Parlament eingeforderten Gesetzesvorschläge als erste Schritte vorlegen. Für umfassende Finanzmarktregulierung. Für Besteuerung von Finanzmarkttransaktionen. Für Eurobonds, die das Solidaritätsprinzip der Europäischen Union bekräftigen.

Den Wert und die dringende Notwendigkeit der Solidarität zwischen den Staaten und den Menschen werden wir immer wieder betonen.

Solidarität meint nicht nur Finanzhilfen. Solidarität meint auch Widerstand gegen den Kürzungswahn der Regierungen. Als oberster Vertreter einer genuin Europäischen Institution, müssten Sie sich unserer Forderung nach Abkehr von diesem Kürzungswahn eigentlich anschließen können

Besonders bedrohlich erscheint mir, dass die soziale Spaltung unserer Gesellschaften massiv voranschreitet. Die Politik orientiert sich auf die Rettung von Banken, hier stellt sie Kreditrahmen von Hunderten Milliarden Euro bereit. Für die kleinen Leute hingegen bleibt nur das Bezahlen der Zeche für die Politik der Liberalisierung und Privatisierung, die das internationale Finanzkasino erst ermöglicht haben. Ihnen werden massive Sparprogramme auferlegt. Sie müssen länger arbeiten, erhalten Kürzungen von Löhnen und Gehältern und Sozialleistungen, sie sind den Sparprogrammen der Regierungen hilflos ausgeliefert. Die soziale Gerechtigkeit ist völlig unter die Räder gekommen. Das kann so nicht weitergehen. Die Massenaktionen der Bevölkerung in Griechenland, Portugal, Irland und Spanien zeigen, dass der Geduld und Leidensfähigkeit der Menschen klare Grenzen gesetzt sind. Dies hat auch die Geschichte schon öfter gezeigt.

Um es klar zu sagen: Entweder wird es einen gemeinsamen solidarischen Weg aus der Krise geben.Dann kann die EU besser - sozialer, nachhaltiger, demokratischer - aus der Krise hervorgehen. Oder es gibt keine Lösung für die EU als Ganzes - mit schwer voraussagbaren Konsequenzen."

Strasbourg, 28. 09. 2011