Eine Politik des ”Weiter so“ darf es in Europa nicht geben

23.09.2009

von Helmut Scholz, MEP (DIE LINKE)Von Jacques Delors, dem früheren Präsidenten der Europäischen Kommission, ist das Bonmot überliefert, die EU sei ein UFO – ein unbekanntes Flugobjekt mit unbekanntem Ziel. Tatsächlich hat sich die EU seit Delors Abschied im Jahr 1994 dramatisch verändert. Aber nicht in die Richtung, die der französische Sozialist - der sich im Rahmen seiner Möglichkeiten und des politischen Umfelds mit Vorschlägen für eine europäische Wirtschaftsregierung und eine europäische Sozialunion einen Namen machte - gern gesehen hätte. Vielmehr hat sich in den vergangenen Jahren der von den Regierungen auch über die europäische Schiene gefahrene neoliberale Kurs, wenn auch mit verschiedenen Ausprägungen, auf dem ganzen Kontinent durchgesetzt. zuerst veröffentlicht auf EU reporter.

Die vor fast genau einem Jahr mit dem Bankrott des US-Bankhauses Lehman Brothers offen ausgebrochene Wirtschafts- und Finanzkrise, die kurz darauf nach Europa übergriff, ist der jüngste und sicher dramatischste Ausdruck dieser Politik. Und er ist keinesfalls nur ein Export der USA, sondern Konsequenz der seit langem in der EU und ihren Mitgliedsländern praktizierten Politik der immer stärkeren Umverteilung von unten nach oben, der immer weiter liberalisierten Märkte und längeren Freibriefe für Kapital und Wirtschaft, der immer tieferen Schnitte ins soziale Netz und der rechtlichen Absicherung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. So wurde der vor zehn Jahren von der EU-Kommission beschlossene Plan zur „Liberalisierung“ von Finanzdienstleistungen in Europa - auch von der rot-grünen und schwarz-roten Bundesregierung - nur all zu gern im Rahmen der seit dem Jahr 2000 laufenden „Lissabon-Strategie“ umgesetzt. Offiziell verfolgte der Lissabon-Prozess das Ziel, die EU bis 2010 zur dynamischsten Wirtschaftsregion der Welt zu machen, die soziale Flanke zu stärken und Vollbeschäftigung zu erreichen. Zwar ist diese Strategie - absehbar – gescheitert und von Vollbeschäftigung oder einer europäischen Sozialpolitik spricht niemand mehr. Was geblieben ist, ist die Entfesselung des Marktes.

Die Linke in Deutschland und Europa hat seit Jahren vor diesen Szenario gewarnt und sich für Alternativen zu dieser Entwicklung eingesetzt. Damit ist sie ist als einzige politische Kraft nicht kompromittiert. Nicht zuletzt deshalb konnten die linken europäischen Parteien bei den Wahlen zum Europäischen Parlament abermals als Fraktion in die Volksvertretung einziehen - trotz der zum großen Teil hausgemachten Probleme einiger linker Parteien.

Die Frage, wohin Europa gehen soll und muss, steht heute brennender denn je: Eine Politik des „Weiter-so“, trotz Krise, Sozialabbau, zunehmender Militarisierung der EU-Außenpolitik und wachsender Aggressivität bei der Durchsetzung europäischer Interessen oder ein europäisches Sozialstaatsmodell, die Absage an weltweite Militärinterventionen und Aufrüstung, die konsequente Einhaltung der Bürger- und Menschenrechte sowie der Einsatz für eine gerechte Weltwirtschaftsstruktur und -handelsordnung? Wer zur Kenntnis nimmt, dass in nur einem Jahr etwa 1000 Immigranten an der EU-Außengrenze ums Leben kommen oder bei der Überfahrt über das Mittelmeer ertrinken, dass laut jüngsten Prognosen in den kommenden Jahren zu den offiziell ohnehin schon über 15 Millionen Arbeitslosen (Eurozone) über acht Millionen weitere Menschen ihren Job verlieren sollen, dass die europäischen Staaten auch weiterhin die US-Interventionspolitik in Afghanistan vorbehaltlos unterstützen wollen und dass die Regierungen und die EU-Kommission außer den Milliardengeschenken für Banken und Wirtschaft kein Rezept gegen die Krise vorlegen, wird eine klare Entscheidung treffen.

Vor diesem Hintergrund hat die europäische Linke in ihrer erstmals gemeinsamen Wahlplattform zu den EU-Wahlen ihre Prämissen für einen Wechsel in Europa formuliert:Frieden, soziale Gerechtigkeit, Demokratie, Ökologie und Solidarität sind die zentralen Forderungen der 30 Mitglieds- und Beobachterparteien für eine erneuerte Europäische Union. Mit ihren 35 Abgeordneten wird die Fraktion Vereinigte Europäische Linke / Nordische Grüne Linke (GUE/NGL), die 15 sozialistische und kommunistische Parteien aus 13 Ländern vertritt, für diese Ziele eintreten. Sicher wird mancher sagen, dass die Linksfraktion damit geschrumpft ist. Tatsache ist aber ebenso, dass sich die Breite der Fraktion - sowohl regional (erstmals ist ein Abgeordneter aus dem Baltikum in unseren Reihen) als auch inhaltlich - vergrößert hat. Und vor allem: Gemessen wird die GUE/NGL an ihrer Politik. Dabei können wir nahtlos an die Arbeit der bisherigen Linksfraktion, die sich unter anderem für eine verbesserte Arbeitszeitrichtlinie, gegen die "Bolkestein"- und die Hafendienstleistungsrichtlinie, gegen eine Militärmacht und Festung Europa einsetzte, anknüpfen.

Die größte Delegation in der GUE/NGL stellt die deutsche Partei DIE LINKE - und nicht zuletzt mit deren Parteichef Lothar Bisky auch den Fraktionsvorsitzenden. Gerade der deutschen Linkspartei war in den letzten Monaten verstärkt Europafeindlichkeit unterstellt worden. Erstaunlich dabei ist, dass selbst erzkonservativen Parteien wie der bayerischen CSU, die permanent gegen "Brüssel" wettert und mit einem namhaften Abgeordnetem die Klage vor dem Bundesverfassungsgericht gegen den Vertrag von Lissabon mit vertrat, dieser Vorwurf nicht gemacht wird. Festgemacht wird die Kritik an einer angeblich europafeindlichen LINKEN vor allem an ihrer strikten Ablehnung einer Militarisierung der EU und an internationalen Militäreinsätzen. Gerade aber in Afghanistan, wo erst vor wenigen Tagen auf deutsche Weisung ein NATO-Bombardement Dutzende Zivilisten tötete, zeigt sich, wie richtig wir mit dieser Ablehnung liegen. Wenn wir die EU demokratischer, sozialer, friedlicher und ökologischer gestalten wollen, ist dies kaum europafeindlich - aber natürlich ein Angriff auf die herrschende Regierungspolitik, auf den entsprechend reagiert wird. Und um auch dieses "Argument" zu entkräften: Die LINKE ist eine Partei, die diskutiert, in der die Meinung nicht „von oben“ vorgegeben wird. Das impliziert, dass es durchaus unterschiedliche Ansichten in Einzelfragen geben kann. Klar aber ist, dass die Prämissen Frieden, Demokratie, Ökologie und Soziales keine Sonntagsreden waren, sondern für die LINKE auch auf europäischer Ebene an erster Stelle stehen.

Europa ist kein so unbekanntes Objekt mehr wie zu Delors Zeiten. Aber das Ziel ist nach wie vor offen. Die europäischen und deutsche Linke haben eine klare Vorstellung, wohin die Reise gehen soll: Zu einer europäischen Sozialunion, die dem Frieden und der Abrüstung ebenso verpflichtet ist wie einem Ende der der Ausbeutung des Südens durch den Norden wie der Demokratisierung der EU und einer nachhaltigen Umweltpolitik, die diesen Namen auch verdient.