Wird dieser Newsletter nicht richtig dargestellt? Link zur Online-Version
Helmut Scholz, MdEP
Zwischen Zeuthen und Brüssel, Ausgabe 126, 15. Dezember 2023
Liebe Leser:innen,

die letzte planmäßige Plenarwoche des Europaparlaments des Jahres 2023 ist am Freitag zu Ende gegangen - noch eine Woche für die Wahlkreise und wie so oft Delegationsreisen in Drittländer liegt vor uns und auch noch eine Woche an Gelegenheiten, die eine oder andere wichtige Angelegenheit in den Büros - sei es in Brüssel oder in den Wahlkreisen - vor dem Jahreswechsel aufzuarbeiten. Ebenso steht mit der letzten Arbeitswoche des spanischen EU-Ratsvorsitzes, bevor dann am 1. Januar Belgien den Staffelstab der halbjährlichen EU-Vorsitze übernehmen wird, auch noch eine Woche intensiver Triloge zu Gesetzgebungsvorhaben auf der Tagesordnung des einen oder anderen Ausschusses bzw. der verantwortlichen Berichterstatter:innen und Schattenberichterstatter:innen. Diese letzte Plenarwoche in Strasbourg hatte es noch einmal in sich, denn wir Abgeordneten haben wiederum eine ganze Reihe von wichtigen Entscheidungen getroffen, die weit über die in einem halben Jahr zu Ende gehende Legislaturperiode wirken werden.

Das Europäische Parlament stimmte mit deutlicher Mehrheit dem AFCO-Bericht zu den Europawahlen 2024 zu, in dem es sich deutlich für eine Harmonisierung des Wahlrechts ausspricht. Die direkt gewählten Abgeordneten fordern unter anderem erneut explizit das Festschreiben des Spitzenkandidatensystems und eine Stärkung der europäischen politischen Parteien. Das Parlament stellt sich damit der Aufgabe seinen Beitrag für die demokratische Stärkung des institutionellen Gefüges zu leisten und damit auch die EU handlungsfähiger zu machen. Denn wie die Luft zum Atmen benötigen die Institutionen dringend eine Stärkung des Vertrauens ihrer Bürger:innen. Bei der letzten Europawahl 2019 haben die europäischen Parteien und ihre nationalen Mitgliedsparteien mit ihren Aussagen zur Wahl, einschließlich des Systems der Spitzenkandidat:innen viele Erwartungen geweckt. Das hatte jedoch aus machtpolitischen Egoismen wenig Bestand und erneut kam es zum Geschacher im EU-Rat mit der Folge großer Enttäuschung und Resignation in Bezug auf Demokratisierung der politischen Verhältnisse. Ja, derartige Entwicklungen sind fatal für den demokratischen Prozess und eine Reform der Europawahlen und die Stärkung der europäischen Parteien bleiben daher entscheidend und überfällig.

Gerade die Festschreibung des Spitzenkandidatensystems hätte das Potenzial, dem Wahlakt eine vollkommen neue, gemeinschaftliche Bedeutung zu verleihen. Denn dabei geht es darum, den europäische Parteienfamilien "Gesichter" zu geben, die für den Kommissionsvorsitz kandidieren – und ihn dann bei einem Wahlerfolg übernehmen. Klar ist, dass dies nur ein institutioneller Aspekt ist - und noch lange nicht strukturelle Defizite überwindet. Aber in Bezug auf das Wahlsystem, auf eine Stärkung der repräsentativen Demokratie ausgerichtete Reformen sind sicherlich ein wichtiger Ausgangspunkt hier neue Formen und Regeln zu entwickeln und festzuschreiben. Wie kommen wir zu einem Europäischen Souverän, der die Belange des EU-weiten Zusammenlebens wirklich zu seiner Angelegenheit machen will und es auch können muss. Ich finde zugleich, dass wir deutlich über den jetzt abgestimmten Kompromiss hinausgehen müssen. Dazu zähle ich auch den Vorschlag, den eine knappe Mehrheit im Parlament erneut ablehnte, einen zusätzlichen EU-weiten Wahlkreis mit tatsächlich transnationalen Wahllisten einzurichten. Das würde klar und transparent neue Spielräume für einen wahrhaft europäischen Wahlkampf und politische Diskurse schaffen. Der letzte derartige Versuch des Parlaments aus dem Jahre 2022 steckt noch immer in der Sackgasse der Weigerung des EU-Rats, sich dazu eine klare Position zu erarbeiten. Und ich befürchte, dass die EU-Regierungen hier auch weitermauern. Aber die Verhältnisse zwingen die Politik von Rat und Parlament zum Handeln und deshalb bleiben die Mitgliedstaaten gefordert, den notwendigen Mut aufzubringen, ihre vor allem national ausgerichtete machtpolitische Sicht auf die Zusammensetzung der einzigen direkt gewählten EU-Institution abzulegen und den Schritt hin zu EU-Gemeinschaftsinteressen in den Mittelpunkt stellenden europäischen Wahlen zu wagen. Diese Weitsicht muss zugleich das Handeln der Parteien und Fraktionen des neu gewählten Europaparlaments im Juni 2024 in Bezug auf die Benennung der Spitzenämter der EU bestimmen.

Und unüberhörbar wie unübersehbar hat die mediale Berichterstattung vom Dezember EU-Ratsgipfel vermittelt: Die kommenden Jahre werden von den Verhandlungen über eine EU-Erweiterung geprägt sein. Ja, der Tenor der Beratungen war trotz der inzwischen „berühmt“ gewordenen Kaffeepause“ des ungarischen Präsidenten Orban eindeutig das Ja der Staats-und Regierungschef:innen zum weiteren Umbau der EU zu einem geopolitischen Akteur durch die vorgesehene Erweiterung mit der Aufnahme von Verhandlungen mit der Ukraine und Moldau als künftige EU Mitgliedstaaten und einer Intensivierung der Verhandlungen mit den Staaten des sogenannten Westbalkans. Diese Strategie wird es aber nicht allein richten. Vielmehr muss die gesamtgesellschaftliche Entwicklung in der EU-27 und parallel in den Beitritt anstrebenden Staaten zum zentralen Punkt eines möglichen Beitrittsprozesses werden. Eine um weitere 7 bis 8 Staaten vergrößerte EU kann und wird nicht mehr die heute bekannte, real existierende EU sein. Deshalb gilt es jetzt die zentralen Aufgabenfelder, die Komplexität und die auf alle Bürger:innen der EU-27 und zugleich der Kandidatenländer zukommenden Belastungen und Herausforderungen in konkretem Raum und Zeit herauszuarbeiten und gemeinschaftlich zu thematisieren. Politisch, demokratisch und sozial sind diese Fragestellungen von allen Akteur:innen zu benennen und transparent zu machen - sonst wird eine akzeptierte Weiterentwicklung des EU-Integrationsprozesses von den Menschen schwerlich angenommen werden. Das Parlament hat zumindest die Konturen dieses Projektes für sich erkannt und bereitet gegenwärtig in einer gemeinschaftlichen Arbeit der Ausschüsse für Auswärtige Angelegenheiten (AFET) und für Konstitutionelle Angelegenheiten (AFCO) seine Stellungnahme vor: Wie muss die EU sich auf solch eine fundamentale Veränderung vorbereiten? Dazu muss sicherlich vor allem die EU sich selbst beitrittsfähig machen. Mit einer Neugestaltung sowohl der Gemeinschaftspolitiken, allen voran der Haushalts-, der Agrarpolitik und der so wichtigen Regional- und Strukturpolitik als auch des institutionellen Gefüges der EU.

Das sehe nicht nur ich so: Erst vor wenigen Wochen hat das Parlament mit seinem Legislativen Bericht und der Aktivierung des Artikel 48 Verfahrens zum Ausdruck gebracht, dass eine Reform der Verträge unumgänglich ist, den Herausforderungen unserer Zeit gerecht werden zu können, auch bevor es zur erwarteten Erweiterung kommen kann. Diesen Bericht zu angestrebten Vertragsänderungen hat das Parlament nach mehr als einem Jahr intensiver Arbeit erfolgreich verabschiedet. Die Chance auf eine Reform und stärkere Demokratisierung der EU ist historisch – es bleibt zu hoffen, dass auch die Mitgliedstaaten doch noch das Potential eines solchen Momentes erkennen.

Auch in einem anderen Bereich gab es eine wichtige Weichenstellung. Im sogenannten Trilog – also den Verhandlungen von Europaparlament, EU-Kommission und Regierungen – gab es eine Einigung über das europäische Lieferkettengesetz. Um dieses Gesetz wurde lange gerungen, und gerade die großen multilateralen Konzerne haben immer wieder auf der Bremse gestanden. Aber nun ist es praktisch unter Dach und Fach: Mit dem Gesetz werden europäische Unternehmen verpflichtet, in ihren Lieferketten die Einhaltung von Menschenrechten zu gewährleisten. Zudem müssen Maßnahmen gegen Umwelt- und Sozialdumping ergriffen werden. Im Falle des Verstoßes gegen die Regelungen sind Sanktionen vorgesehen.

Sicher ist das Gesetz nicht perfekt. So sind kleine und mittlere Unternehmen von der obligatorischen Anwendung ausgenommen. Auch der Finanzsektor ist nicht einbezogen. Hier gibt es noch Nachholbedarf – wie übrigens auch beim deutschen Lieferkettengesetz, das bereits seit Jahresbeginn gilt. Trotzdem ist das europäische Lieferkettengesetz ein starkes Signal, dass Standards bei Menschenrechten und Umweltschutz künftig zentrale Elemente in der Handelspolitik sein müssen und es setzt neue regulatorische verbindliche Maßstäbe, die Unternehmen wie auch Regierungen einzuhalten haben.

Ohnehin war 2023 ein wichtiges Jahr im Handelsausschuss, deshalb lohnt sich ein Blick zurück auf das, was wir geschafft haben. Regelmäßige Leser dieses Newsletters werden sich noch an die vielen handelspolitischen Themen erinnern, die wir dieses Jahr im Ausschuss und Plenum diskutiert haben. Zum Beispiel die kürzlich erfolgreich abgeschlossene Abstimmung zu den europäischen Zwangslizenzen, oder das kontrovers diskutierte Freihandelsabkommen mit Neuseeland, das im November angenommen wurde. Andere relevante Themen waren die Verordnung zum Verbot von Zwangsarbeit und das Instrument gegen Zwangsmaßnahmen. Auch sei auf die – bislang gescheiterte – Neufassung des Allgemeinen Präferenzsystems verwiesen, die uns als noch zu lösende Aufgabe während der belgischen EU-Ratspräsidentschaft im kommenden Halbjahr weiter begleiten wird.

Lassen Sie mich noch Punkte ansprechen, die uns in den nächsten Monaten ebenso weiter beschäftigen werden. Das sind insbesondere zwei Freihandelsabkommen. Einerseits die Modernisierung der Handelsbeziehungen mit Chile. Hier sehe ich gerade den neokolonial anmutenden Handel mit Lithium kritisch, der den Aufbau einer verarbeitenden Industrie in Chile erschweren wird. Zu hinterfragen ist gleichzeitig die Art und Weise, wie die Kommission mit dem Modernisierungsabkommen erneut den prozeduralen Sonderweg beibehält, indem zwei separate Abkommen geschlossen werden. Das die bilateralen Handels- und Investitionstätigkeit abdeckende Abkommen würde nach der Zustimmung des Europäischen Parlaments sofort gelten, ohne dass die Mitgliedsstaaten noch zustimmen müssten. Und die Vereinbarungen, die die politischen langfristigen Umstrukturierungsverpflichtungen und die Menschenrechte betreffen, verbleiben separat der mitgliedstaatlichen Ratifizierung und können vor Inkrafttreten Jahre der Ratifizierung benötigen. Das ist bedenklich und nicht wünschenswert.

Zudem steht das Mercosur-Abkommen mit lateinamerikanischen Staaten weiter auf der Agenda. Es gibt politische Kräfte in der EU, die dieses Abkommen um jeden Preis über die Ziellinie bringen wollen. Die Wahl Javier Mileis als Präsident Argentiniens wird diesen Prozess sicherlich auf der Seite von Mercosur erschweren, denn er hat einen rigorosen, sich an keine internationalen Regeln und Vereinbarungen haltenden, neoliberalen Wirtschafts- und Gesellschaftskurs angekündigt und hinterfragt auch die Sinnhaftigkeit des Wirtschaftsraums Mercosur selbst, aber auch viele NGO und Politiker:innen, Agrarlobby und Umweltverbände bis hin zum französischen Präsidenten Macron und Teile des Europaparlaments in allen Fraktionen stehen dem vorliegenden Abkommen aus sehr unterschiedlichen Beweggründen sehr kritisch gegenüber. Zurecht aus meiner Sicht und der anderer linker Abgeordneter, denn das, was auf Basis eines sehr alten Mandats jetzt vorliegt, bleibt traditioneller klassischer Freihandel zugunsten der großen Wirtschaftsplayer sowie Regelungs-Stückwerk, und kann nicht konstruktive Grundlage für eine Nachhaltigkeit in den Mittelpunkt rückenden Verzahnung der dann größten Freihandelszone der Welt sein. Dieses Mandat wurde selbst entgegen unseren Forderungen im Europaparlament von der Kommission und vom Rat der EU-Außenhandelsminister:innen, auch Deutschlands, nicht hinterfragt und unter völlig veränderten Rahmenbedingungen und der inzwischen erreichten Vereinbarungen zu Umweltschutz und Kampf gegen den Klimawandel einfach weiter verhandelt.

Diese dann größte Freihandelszone bräuchte wirklich gemeinsam vorangetriebene faire Handels- und Investitionsbeziehungen sowie eine wirtschaftliche Kooperation, die auf jeweils eigenständige Kreislaufwirtschaften und regionale Zusammenarbeit auszurichten ist, und sich konsequent den gegenwärtigen Entwicklungszwängen eines Umbaus von Industrie- und Agrarwirtschaft im Zeitalter von Klimawandel, Kampf gegen das Artensterben, für sozialen Fortschritt und Armutsbekämpfung und deshalb Ausrichtung entlang der UN-Agenda 2030 und ihrer 17 Nachhaltigkeitsziele stellt. Eine nicht-sanktionierbare Absichtserklärung wird den Amazonas-Regenwald nicht retten, sondern ist lediglich ein politisches Trostpflaster. EU-Kommission und Rat dürfen bei diesem Abkommen nicht hinter Standards zurückfallen, die das Parlament seit Jahren erarbeitet und als Benchmarks internationaler Abkommen gesetzt hat. Umso mehr, weil der Rohstoffhunger der EU für ihre New Green-Deal-Agenda in einer immer mehr voneinander abhängigen Welt neue Konflikte hervorbringen kann, wenn es keine verbindlichen Mechanismen und Steuerungsinstrumente gibt.   

Abgesehen von den Themen des Handelsausschusses allein: Noch fast gut 100 Gesetzesakte stehen bis April 2024 auf der Tagesordnung. Sie sehen, es bleibt in der verbleibenden Zeit der Legislatur noch viel zu tun.

Zunächst aber wünsche ich Ihnen schöne Feiertage und einen guten Rutsch ins neue Jahr. Bleiben Sie gesund, tanken Sie frische Kräfte auf und bleiben Sie optimistisch, auch wenn die Kriege und Konflikte, die Sorgen in Ihrem Alltag angesichts einer wenig zukunftstauglichen Politik der Bundesregierung das schwer zu machen scheinen. Aber: Ohne Kampf kein Sieg – stellen wir uns den Komplexitäten gesellschaftlicher Entwicklung mit frischen Ideen, der Bereitschaft zu breitem gesellschaftlichem Engagement und entschiedenem Kampf gegen Rechtsextremismus und Populismus.

 

Den nächsten Newsletter aus meinem Büro finden Sie am Wochenende 6./7. Januar 2024 in Ihrem Mailbox-Fach.

Ihr

Helmut Scholz

 

In diesem Sinne: Alles Gute für ein gesundes, friedliches und erfolgreiches Neues Jahr!

Weihnachten

Vor dem Baum fragt sein Sohn:

Wer war Jesus?

Ein Revolutionär,

sagt B.

Was ist aus ihm geworden?

er predigte die Liebe,

antwortete B., und

nach einer Pause:

zu allen.

Auch zu seinen Feinden?

Ja.

Was geschah?

Sie legten ihn aufs Kreuz.

 

- Peter Maiwald -

 

 

Vergnügungen

Der erste Blick aus dem Fenster am Morgen

Das wiedergefundene alte Buch

Begeisterte Gesichter

Schnee, der Wechsel der Jahreszeiten

Die Zeitung

Der Hund

Die Dialektik

Duschen, Schwimmen

Alte Musik

Bequeme Schuhe

Begreifen

Neue Musik

Schreiben, Pflanzen

Reisen

Singen

Freundlich sein

 

- Bertolt Brecht -

Facebook  Twitter  YouTube
DIE LINKE im Europaparlament

Büro in Brüssel
Europäisches Parlament
ASP 02G354
Rue Wiertz 60
B-1047 Brüssel
Telefon: +32 228-45 89 3
Telefax: +32 228-49 89 3
helmut.scholz@ep.europa.eu

Büro des Europaabgeordneten Helmut Scholz in Berlin
Postanschrift:
Helmut Scholz MdEP
Platz der Republik 1
11011 Berlin
Besuchsanschrift:
Unter den Linden 50
10117 Berlin
wk@helmutscholz.eu

Europa- und Bürgerbüro Rostock
Kröpeliner Straße 24
18055 Rostock
Telefon: 0179 758 41 26
wk@helmutscholz.eu

Europa- und Bürgerbüro Schwerin
Martinstraße 1A
19053 Schwerin
Telefon: 0179 758 41 26
wk@helmutscholz.eu

Europa-Wahlkreisbüro Frankfurt (Oder)
Zehmeplatz 11
15230 Frankfurt (Oder)
Telefon: 0151-53 69 84 15 und 03563-99 93 92 6
wk@helmutscholz.eu

Europäisches Regionalbüro Spremberg
Europejski regionalny běrow Grodk
Bauhofstraße 1
Twaŕski dwór 1
03130 Spremberg
03130 Grodk
Telefon: 0151-53 69 84 15 und 03563-99 93 92 6
wk@helmutscholz.eu

Wenn Sie diesen Newsletter nicht weiter beziehen wollen, können Sie hier ihre E-Mail-Adresse aus dem Verteiler austragen