Interview mit Helmut Scholz im ND zur europäischen Bürgerinitiative

20.09.2010

Noch in diesem Jahr soll das Europäische Parlament über die Bürgerinitiative entscheiden. Können die Bürger künftig direkt in Brüssel mitregieren?

Die deutliche Demokratisierung der europäische Strukturen ist das Herzstück der Vorstellungen vieler Linken in Europa, wie es mit dem Europäischen Projekt weitergehen soll. »Europa« ist vielen fremd geblieben, weil politische Entscheidungsprozesse intransparent verlaufen und an den Interessen der Bevölkerung oft einfach vorbeigehen. Die Europäische Bürgerinitiative, die im Lissabon-Vertrag verankert ist, wird daran prinzipiell nichts ändern. Was sie aber ermöglicht, ist, dass Menschen sich zusammentun und ihre Interessen artikulieren können. Sie bekommen das verbriefte Recht, die Europäische Kommission aufzufordern, zu einem konkreten Thema eine Gesetzesinitiative zu unternehmen. Das ist wirklich neu, denn der Bürger bekommt damit ein »Initiativrecht« gleich dem Europäischen Parlament.

Also doch kein Mitregieren.

Mitregieren würde ich es nicht nennen, aber es ist eine klare Möglichkeit, der Kommission Themen auf den Tisch zu legen, die den Menschen unter den Nägeln brennen. Wobei es sich natürlich um Themen handeln muss, für die die Kommission zuständig ist und nicht die Mitgliedstaaten. Also Mitregieren im Sinne von Volksabstimmungen, die wir uns wünschen würden, wird es mit diesem Instrument nicht geben. Wir werden aber die Chance haben, dass sich Bürger grenzüberschreitend ihrer Interessen bewusst werden und diese organisieren.

Wo wünscht sich die Linke direkte Bürgermitsprache?

Ich kann mir keinen Bereich vorstellen, wo der Bürger nicht mitreden sollte, dafür ist er der Souverän. Schon Jean-Jacques Rousseau hat die Empfehlung hinterlassen, diese Souveränität nicht abzugeben. Dringend sollte er bei der Finanzmarktregulierung mitsprechen. Vergessen wir nicht, gerade vor zwei Jahren war die Lehmann-Pleite und es bewegt sich nur sehr wehr wenig in diesem Bereich. Aber ebenso auch im Verbraucherschutz, natürlich bei wirtschaftspolitischen Entscheidungen, bei der Migration, um nur einige der aktuellen Themenfelder zu benennen. Das ist unser prinzipieller Ansatz von dem aus wir als Europaabgeordnete auch Stellung zum vorliegenden Kommissionsvorschlag zur konkreten Ausgestaltung der Bürgerinitiative beziehen müssen. Gegenwärtig geht es viel um technische Aspekte einer solchen Initiative: Braucht man viele Unterschriften aus vielen Ländern, reichen auch wenige, was sollte zulässig sein, was nicht? Wir wollen ein Initiativrecht für die Bürger, welches handhabbar ist und nicht in ein unbeherrschbares »bürokratisches« Regelwerk gepackt wird. Konsens zwischen den Fraktionen im Europaparlament ist gegenwärtig, dass die Bestimmungen der Grundrechtecharta der Bürgerinitiative zugrunde liegen müssen. Damit wird ausgeschlossen, dass die Initiative für rassistische, antisemitische oder faschistische Anliegen missbraucht wird.

Die Charta verhindert aber nicht, dass die Bürgerinitiative von Wirtschaftslobbyisten oder Interessenverbänden genutzt wird.

Diese Gefahr kann nur gebannt werden, wenn die Bürgerinitiative transparent gemacht wird. Es muss deutlich sein, wer der Organisator ist, wer das Geld gibt, was das Ziel ist. Wir werden sehen, wie weit wir mit dieser Forderung kommen, denn hier sprechen ja auch die Regierungen der Mitgliedstaaten mit. Was Deutschland anbelangt haben wir in Sachen direkter Demokratie ja noch deutliches Entwicklungspotenzial.

Auf dem Hearing am Mittwoch haben Nichtregierungsorganisationen über ihre Erfahrungen mit direkter Demokratie berichtet.

Ja, das war sehr interessant. Unsere Gäste haben in einem sehr konstruktiven Dialog dem zuständigen EU-Kommissar Maroš Šefcovic und den anwesenden Europarlamentariern ihre Forderungen und Wünsche klar auf den Tisch gelegt. Einige davon waren: keine Personalausweispflicht beim Leisten der Unterschriften, Schutz der Daten der Initiatoren und Unterstützer, absolute Transparenz hinsichtlich der finanziellen Unterstützung von Initiativen, so niedrige Quoren wie möglich. Was ich als sehr wichtig betrachte: Es wurde auf der Basis konkreter Erfahrungen mit Instrumenten der direkten Demokratie gesprochen. Einhellige Übereinstimmung bestand, dass man die Bürgerinitiative trotz aller Begrenzungen will.

Der Lissabon-Vertrag lässt offen, ob die EU-Kommission auf Bürgerinitiativen reagieren muss.

Reagieren muss sie auf jeden Fall. Aber nicht zwangsläufig wird eine Initiative in ein Gesetz umgesetzt werden. Der Lissabon-Vertrag bleibt hier konkrete Festlegungen schuldig. Diese Defizite müssen wir bei der konkreten Ausgestaltung der Bürgerinitiative korrigieren.

Hat die Linke das Thema Bürgerinitiative nicht etwas spät für sich entdeckt?

So spät ist es ja gar nicht. Schon in der letzten Legislatur war es ein Thema, welches aus der deutschen Delegation heraus durchaus voran getrieben wurde. Eigentlich beginnt die direkte Debatte gerade erst, auf der Basis des Vorschlags der Kommission. Ob wir aber die Chancen der direkten Demokratie und deren verfassungsmäßige Umsetzung in der Vergangenheit im notwendigen Maße aufgegriffen haben, ist eine andere Frage. Vor allem im europäischen Maßstab denken wir immer bei unseren Initiativen die konkrete Situation in den anderen EU-Mitgliedsstaaten mit.

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