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„Die Bedenken wurden nicht ernst genommen“

31.05.2013

In einem ausführlichen Interview mit der Tageszeitung "neues deutschland" bewertet LINKE-Handelsexperte Helmut Scholz Stand und Optionen der Transatlantischen Handels- und Wirtschaftsbeziehungen und nimmt zum geplanten Freihandels- und Investitionsabkommen EU-USA (TTIP) Stellung. Das Gespräch ist "im Original" auf der nd-Webseite nachzulesen.

Mit dem Freihandelsabkommen EU-USA (Transatlantic Trade and Investment Partnership -TTIP) soll einer der größten und stärksten gemeinsamen Märkte entstehen. Kritiker fürchten, in der dann weltgrößten Freihandelszone könnte die EU ohnehin schon aufgeweichte Standards im Beschäftigungs-, Verbraucherschutz- oder Umweltbereich ganz aufgeben. Mit dem Europaaggeordneten und Handelsexperten der Linksfraktion Helmut Scholz sprach Uwe Sattler über die TTIP.

F.: Am vergangenen Donnerstag hat das Europäische Parlament mit großer Mehrheit eine Resolution angenommen, die die Erteilung des Verhandlungsmandats an die EU-Kommission durch den EU-Gipfel Mitte Juni unterstützt. Warum war die linke GUE/NGL-Fraktion dagegen?

A.: Weil viel Fragen, vor allem aber die aus bisherigen Erfahrungen mit den praktischen Folgen von Freihandelsabkommen gewachsenen Sorgen der Menschen von der Kommission und letztlich auch von der Parlamentsmehrheit nicht ernst genommen wurden. Wir konnten zwar als kleinen Teilerfolg einen Antrag durchbringen, der die Herausnahme der Bereiche Kultur und audiovisuelle Medien aus dem Verhandlungsmandat fordert. Zahlreiche Kunst- und Filmschaffende sowie Medien aus Europa befürchten, dass im Zuge einer mit dem Abkommen angestrebten Liberalisierung Möglichkeiten wegfallen könnten, Filme und andere Kulturgüter ihres Sprachraums öffentlich zu subventionieren. Nun liegt es an Bundeskanzlerin Merkel und ihren Kollegen im Europäischen Rat, dieser Forderung zu entsprechen. Viele weitere berechtigte Anliegen der Bevölkerungen wie zum Beispiel Schutz vor Genmanipulation in der Landwirtschaft, vor dem Ausverkauf des Datenschutzes, der Verringerung des Verbraucherschutzes oder vor Zulassung von Fracking durch US-Konzerne oder künftig auch europäischer Unternehmen, wie es Kommissar Oettinger will, wurden von Konservativen, Sozialdemokraten und Liberalen ignoriert. Als Linke fordern wir, der Kommission im Verhandlungsmandat „rote Linien“ zu setzen. Die Qualität der Arbeitsbedingungen, der Erhalt der öffentlichen Daseinsvorsorge, eine Landwirtschaft frei von Genmanipulation, Hormonfleisch oder dem Klonen von Tieren, der Vorrang von Umweltschutz vor Investoreninteressen, hohe Verbraucherschutzstandards und der Schutz von persönlichen Daten vor Datenhändlern wie Google oder Facebook dürfen nicht zur Verhandlungsmasse werden. Daran werden wir jegliches Verhandlungsergebnis zwischen EU und USA messen.

F.: US-Außenminister John Kerry sagte, er freue sich auf die Gespräche über ein transatlantisches Freihandelsabkommen. Sie freuen sich als Mitglied der USA-Delegation des Europaparlaments und Handelsexperte der Linksfraktion also nicht?

A.: Wir haben es mit dem von beiden Seiten politisch gewollten Versuch zu tun, die zwei weltgrößten Märkte – sehen wir von chinesischen Binnenmarkt einmal ab – miteinander so zu verzahnen, dass ein gemeinsamer Wirtschaftsraum entsteht, der die Wirtschafts- und Finanzpotentiale der EU und der USA zusammenführt. Und dies geschieht vor dem Hintergrund einer sehr widersprüchlichen, von vielen Krisen-Prozessen gezeichneten Entwicklung in der EU und auch in den USA. Dieser transatlantische Markt soll zugleich Antwort auf eine weltwirtschaftliche Situation sein, die von den wirtschaftlichen Aufholprozessen der BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika), sowie weiterer "Schwellen-Länder" wie Südkorea, Mexiko, der Türkei, Kolumbien und Chile, oder den Südostasiatischen ASEAN-Staaten gekennzeichnet ist. Die bisherige wirtschaftliche Dominanz der USA und der EU, damit mittelfristig auch deren politisches Gewicht, wird und ist in Frage stellt.

F.: Es geht also um Erhaltung von Dominanz?

A.: Tatsächlich ist mit der TTIP die Frage verknüpft: Kann durch eine "einfache" Vergrößerung der Märkte unter gleichzeitigem Festhalten an neoliberaler Wirtschaftspolitik diese alte Rolle der USA und in deren Fahrwasser auch der EU, vor allem ihrer wirtschaftlich und finanzpolitisch stärksten Mitgliedstaaten, als Ordnungsmacht gegenüber dem „Rest der Welt“ einfach fortgesetzt werden? Oder muss nicht viel eher eine neue Perspektive für weltwirtschaftliche Zusammenarbeit eröffnet werden, die Antworten für viele anstehende globale Herausforderungen aufzeigen könnte?

F.: Die ökonomische Krisensituation der USA hat deren Rolle als Ordnungsmacht bereits geschwächt.

A.: Die Intentionen, die sich mit der TTIP verbinden, kommen natürlich aus einer problematischen wirtschaftlichen und finanzpolitischen Stellung der USA und auch der EU. Es ist ja keine neue Idee, und gerade die konservativ regierten Mitgliedstaaten der Europäischen Union drängten seit langem auf ein solches Abkommen. Aber erst mit dem eindeutigen "Bekenntnis" Präsident Obamas in seiner Lage-zur Nation-Rede Mitte Februar kam grünes Licht aus Washington. Die USA verorten sich ganz offensichtlich neu. Zum pazifischen Pfeiler mit den seit einem Jahr laufenden Verhandlungen zu einem "Transpazifischen Handelsabkommen“ kommt nun der transatlantische Pfeiler hinzu. Die USA wollen verloren gegangene wirtschaftliche Stärke durch die Einbindung anderer Partner kompensieren.

F.: Und die EU?

A.: Natürlich ist auch die EU ihereseits an solchen vernakerungen interessiert. davon sprechen die gegenwärtig bereits abgeschlossenen oder im Verhandlungsprozess befindlichen 70 bilateralen oder bi-regionalen Handels-, Wirtschaftspartnerschafts- und Investitionsabkommen eine deutliche Sprache. In ihrer gegenwärtigen Verfasstheit ist aber für die USA auch nicht der Rettungsanker. Was sich hier bisher abzeichnet, ist lediglich – bei den politischen und wirtschaftlichen Machtpositionen nicht verwunderlich – für beide Seiten die Fortsetzung der bisherigen Politik mit erweiterten Mitteln. Das 21. Jahrhundert erfordert jedoch ganz andere Antworten auf globale Probleme.

F.: Sie gehen davon aus, dass dieses Umdenken nicht stattfindet. Als Linker müssten Sie dann gegen ein TTIP sein.

A.: Es stellt sich für die Politik, auch für linke internationale Politik immer die Frage: Wie greife ich in bestimmte Entwicklungsprozesse ein, wie ermögliche ich Veränderungen, wie trage ich jetzt und hier zum Zustandekommen anderer Kräfteverhältnisse bei? Ich glaube nicht, dass wir auf ein einfaches Ja-Nein-Spiel hoffen dürfen, wenn wir Änderungen erreichen wollen. Woher und zu welchen Bedingungen kommen Investitionen für die dringend notwendige Reindustrialisierung gerade im Süden und Osten der EU, für eine Energiewende hin zur regenerativen Energieerzeugung, um nur zwei Beispiele für die Dimension der Fragestellungen aufzuzeigen. In der das TTIP vorbereitenden " hochrangigen Arbeitsgruppe für Arbeitsplätze und Wachstum" der EU-Kommission und der US-Administration wurden zwar Wünsch- Dir-Was-Konzeptionen für die Job-Schaffung beschrieben. Aber mit keiner Silbe wurde ein Bruch neoliberaler Praxis der internationalen Multis, Banken oder ein politisch gesetztes Signal zur Entmachtung der Finanzmärkte beschrieben. Wir brauchen jedoch gemeinsam vereinbarte Strukturen und Mechanismen, die das Umsteuern ermöglichen. Das wird nicht ohne aktives Eingreifen, und zwar geballtes aktives Eingreifen aller alternativ denkenden Kräfte in allen Bereichen der Gesellschaft, möglich sein. Wir brauchen keine „Wirtschafts-NATO“. Aber sicher eine Kooperation zwischen EU und den USA, wenn es um die Fragen der Energieversorgung, der Nahrungsmittelproduktion, den Austausch von Hightech-Produkten geht. Dies darf nicht zu Lasten der anderen Regionen der Welt gehen, es darf keine Vormachtstellung aufgebaut werden. Wir haben viele kritische Stimmen in den 27 Mitgliedstaaten der EU und auch in den USA gegenüber einem solchen Kurs.

F.: Selbst wenn der US-Präsident gegen eine solche Ausrichtung wäre – Barack Obama musste in der Vergangenheit wegen des innenpolitischen Kräfteverhältnisses wiederholt von seinen Versprechungen abweichen.

A.: Obama muss ständig Anpassungen seines politischen Kurses an die machtpolitischen Gegebenheiten in den USA vornehmen. Und auch die EU befindet sich mit ihren 27 Mitgliedstaaten in einer sehr grundsätzlichen, auch machtpolitischen Diskussion über ihr Wie und Weiter. Verhindert werden muss ein einseitig auf den jeweiligen Wirtschaftsraum bezogenes Agieren. Wohin solche Egoismen führen können, sehen wir doch gerade gegenwärtig auch innerhalb der EU sehr deutlich. Wir brauchen keine Handelskriege, keine Wirtschaftskriege, keinen Finanzkriege, weder zwischen den USA und der EU noch zwischen dem beabsichtigten transatlantischen Markt gegenüber dem Rest der Welt. Aber natürlich bringt ein solches Abkommen zwischen einem Nationalstaat und einem Staatenbündnis wie der EU Probleme mit sich: Verändert sich mit einem breiten Freihandelsabkommen die bestehende Rechtsordnung in Europa? Wir haben einen ausgeprägten Binnenmarkt mit gültigen, in jeweiliges nationales Recht umgesetzten Regeln, Mechanismen und Standards, die zwischen den 27 Mitgliedstaaten entwickelt wurden. Bleiben diese unangetastet oder zwingen die USA uns mit ihrem internen Binnenmarktgefüge nun andere Regeln auf? Die Art und Weise der Regeln setzenden Strukturen ist ja völlig anders: in der EU sind es die Gesetzgeber auf den jeweiligen Ebenen, in den USA sind es "unabhängige ", vom Gesetzgeber nicht abhängige Agenturen. Gelingt es uns Standards, wie wir sie in Europa gemeinschaftlich entwickelt und vereinbart haben zu verteidigen und sie vielleicht sogar weiterzuentwickeln, oder werden sie weiter abgebaut, unter Bezugnahme auf solche alten beliebten Formeln wie internationale Wettbewerbsfähigkeit, Effizienz usw. usf. ? Dazu zähle ich auch die Anwendung der ILO- Kernarbeitsnormen, von denen in den USA bisher nur zwei Geltung erlangt haben. Auch Lohnfragen, Tarife und gewerkschaftliche Rechte wie die Vereinigungsfreiheit könnten Gegenstand der Verhandlungen werden. Übrigens: Die amerikanischen Gewerkschaften hoffen hier auf eine positive Wirkung der europäischen Seite. Sie haben auch bereits mit dem EGB eine gemeinsame Arbeitsgruppe zur Begleitung der TTIP der beabsichtigten TTIP Verhandlungen gebildet.

F.: Dazu müsste die EU selbstbewusst in die Gespräche gehen. Wie schätzen Sie die Verhandlungsposition der EU-Kommission ein?

A.: Laut Aussagen des zuständigen Handelskommissars De Gucht handelt es sich um das ambitionierteste, tiefgreifendste und größte Handelsabkommen, das die EU jemals mit einem anderen Partner abgeschlossen hat oder abschließen will. Wenn wir uns die Dimensionen der Märkte und der beabsichtigten Inhalte anschauen, stimmt das. De Gucht behauptet, es handele sich um ein "reines" Handels- und Investitionsabkommen und es gehe also nicht um eine, auch von Abgeordneten bereits befürchtete Veränderung des bestehenden Rechtsrahmens der EU; vielmehr könne jeder Partner an seinen internen Regelungen und Gesetzen festhalten. Ziel sei die gegenseitige Anerkennung, wie zum Beispiel bei den Sicherheitsstandards für Autos. Gleichzeitig spricht er aber auch vom Ziel der „legislativen Annäherung“. Es wäre naiv zu glauben, dass die Verhandlungen nicht auch genutzt werden sollen und in gewissem Maße ja dann auch notgedrungen werden müssen, um „Kompromisse“ zwischen den unterschiedlichen Rechtsordnungen und Regelungen in beiden Märkten durchzusetzen oder weitergehende "regulatorische Anpassungen" vorzunehmen. Ein Beispiel wäre, ob die Kennzeichnungspflicht in der EU für genmanipulierte Nahrungsmittel oder die bekannte REACH-richtlinie, die ja auch in der EU selbst noch immer Angriffen aus unternehmerischen Kreisen unterliegt, erhalten bleiben. Inwieweit die europäische Seite also ihre eigenen Kriterien und Prinzipien in den Gesprächen durchsetzen kann, muss sich zeigen. Hier setzen ja auch viele unserer Kritiken am Verhandlungsmandat an, z.B. hinsichtlich der Verteidigungsmöglichkeit und -bereitschaft der Kommission, die kulturelle Vielfalt der EU zu bewahren und deshalb den audio-visuellen Sektor konsequent aus den Verhandlungen herauszuhalten. Erst der Handelsausschuss des EU-Parlaments – mehrheitlich gegen die Stimmen der EVP und ECR und teilweise der liberalen Fraktionen –, jetzt das ganze Parlament und im EU-Rat allein der französische Präsident haben hier erfolgreich eine wichtige, mögliche "Rote Linie" aufgezeigt. Ob Kanzlerin Merkel diese Position im Juni aufgreift und sich bei der endgültigen Mandatsformulierung anschließt, hängt eben auch vom gesellschaftlichen Druck ab.

F.: Können die Europaabgeordneten eine solche Entwicklung befördern?

A.: Vor der Aufnahme der Verhandlungen kann der Handelsausschuss dem Rat lediglich Empfehlungen geben, was dieser in das Verhandlungsmandat für die Kommission hineinschreiben soll. 20 Mitgliedstaaten hatten hier bereits unterschiedliche Vorbehalte geäußert. Nach dem Abschluss der Verhandlungen wird das Abkommen dann dem Europäischen Parlament entsprechend dem Lissabon Vertrag zur Entscheidung vorgelegt. Wir Abgeordneten können zustimmen, oder es im Ganzen ablehnen. Aber wir können nicht einzelne Teile des Abkommens direkt verändern. Seit wir ACTA abgelehnt haben, werden wir von der Kommission allerdings spürbar mehr gefürchtet und erheblich besser mit Informationen aus den Verhandlungen versorgt. Aber ganz klar: Die Linke im Europäischen Parlament wird sich, in ständiger Zusammenarbeit beispielsweise mit den Gewerkschaften, der alternativen Globalisierungsbewegung und Nichtregierungsorganisationen, für maximale Transparenz der Verhandlungen einsetzen, diese sehr kritisch begleiten und dabei stets die von uns definierten roten Linien einbringen.

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