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Rede des Europaabgeordneten Helmut Scholz auf der Konferenz zur Zukunft der Kohäsionspolitik am 19.11.2011 in Erfurt

19.11.2011

Ich freue mich, heute viele der Freunde und Genossinnen und Genossen wieder zu sehen, mit denen wir bereits vor einem Jahr gemeinsam eine Bestandsaufnahmen vorgenommen und darüber diskutiert haben, wie wir uns den sich ab 2013 abzeichnenden Veränderungen in der Kohäsionspolitik stellen müssen. Damals haben wir noch viele Fragezeichen setzen müssen. Zwischenzeitlich liegt nun der 5. Kohäsionsbericht auf dem Tisch und seit einigen Tagen kennen wir auch die Verordnungsvorschläge der Europäischen Kommission. Das eröffnet die Möglichkeit konkret zu hinterfragen, wohin die Reise geht und bestimmter eigene Positionen zu entwickeln.

Lasst mich bitte ganz explizit drauf verweisen, dass unser heutiges Diskussionsthema zu einem wichtigen Feld der Europapolitik natürlich im Rahmen der Gesamtproblematik der Herausforderungen an EU-Politik vor dem Hintergrund der aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise zu verorten ist. Die anderen Megathemen dieser Legislatur - die finanzielle Vorausschau und die Reform der GAP gehören doch ebenso dazu: Struktur-, Regional- und damit Förderpolitik brauchen die Bereitschaft der EU der 27 gemeinsam die Integration fortzusetzen. Mit den letzten Beschlüssen und Verlautbarungen des EU.-Rates Ende Oktober ist es noch längst nicht klar, wohin die Regierungen, allen voran die deutsche und die französische die Entwicklung treiben werden.

Ich möchte eingangs meines Beitrags noch einmal an drei grundlegende Neuerungen erinnern, die der Lissabon Vertrag in Bezug auf den gesamten Komplex der Struktur- und Regionalpolitik, also die Kohäsionspolitik gebracht hat. Dabei handelt es sich um Änderungen, die das tagtägliche politische Handeln bestimmen (werden), unabhängig davon wie wir uns zum Vertrag selbst gestellt haben.

Die erste Neuerung ist im Art. 177 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU (AEUV) festgeschrieben. Dieser legt fest, dass das Europäische Parlament hinsichtlich der Kohäsionspolitik im Rahmen eines ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens gleichberechtigter Gesetzgeber ist. Das schafft allen Abgeordneten, also auch denen der LINKEN und der GUE-NGL im Kontext der konkreten Mehrheitsverhältnisse des Europäischen Parlaments - wie wir es übrigens ja ebenso aus dem Bundestag und den Landtagen kennen - Mitgestaltungsspielräume, die in der Vergangenheit so explizit nicht bestanden. Das bringt uns aber auch gleichzeitig in eine neue Situation gesetzgeberischer Verantwortung. Ich denke es war bereits vor einem Jahr unter uns unstrittig, dass uns die Kohäsionspolitik der EU Instrumente zur Verfügung stellt, die geeignet sind, reale Lebensverhältnisse der Bürgerinnen und Bürger zu gestalten, ergo sie auch zu verändern. Bereits in der Vergangenheit haben wir in den neuen Bundesländern gut daran getan darum zu ringen, dass diese Förderinstrumente wirklich auch in ihrem eigentlichen Sinne, zum Nutzen der Bürgerinnen und Bürger eingesetzt werden. Wir haben uns frühzeitig darauf eingestellt, die Kohäsionspolitik der EU als ein Handlungsfeld gerade auch für linke Politik zu verstehen und uns hier einzubringen.

Die Gestaltungsprozesse in diesem Handlungsfeld durchlaufen unterschiedliche Phasen und erfordern in der Konsequenz dann auch unterschiedliche politische Zugänge. Gespiegelt an unserer heutigen Konferenz würde ich es einmal so formulieren:

- letztes Jahr waren wir im Erfahrungsaustausch, in der Diskussion um den Status und um das in der Vergangenheit Erreichte. Es bewegte uns in erster Linie die Frage: welche Schlussfolgerungen sind für die Zeit nach 2013 zu ziehen;

- heute sind wir den ganzen Tag aufgerufen zu analysieren, zu diskutieren und darüber Verständigung zu erzielen was die konkreten Gesetzesentwürfe der Kommission bringen können und aus linker Sicht und unseren Ansprüchen an die Perspektive europäischer Struktur- und Regionalpolitik auch sol len; Entwür fe, zu denen wi r uns im Gesetzgebungsprozess verhalten müssen;

- in der Zukunft (spätestens ab 2012) geht es dann (schon) um die Fragen:

- welche konkreten wirtschaftspolitischen Schwerpunkte und Alternativen im Kontext der zu entwickelnden operationellen Programme zu setzen sind - wie wir sichern, dass diese sich in dem geplanten Partnerschaftsvertrag zwischen der Europäischen Kommission und der Bundesregierung adäquat wieder finden;

- werden die vorgesehenen regelmäßigen, „partnerschaftlichen“ Überprüfungen der Zielerreichung der operationellen Programme bestätigt,

- werden wir also genügend Gründe haben, uns auch in dieser oder einer solchen Runde in Zukunft noch des Öfteren sehen.

Eng damit verbunden ist für mich eine zweite Neuerung im Lissabon Vertrag. Dieser hat das Subsidiaritätsprinzip nicht nur allgemein bekräftigt sondern es in Art. 5 Abs. 3 (EUV) explizit auch auf die regionale und die lokale Ebene ausgedehnt. Über die Einbindung regionaler und lokaler Interessen und Akteure sind letztlich alle Ebenen staatlichen (und damit auch parlamentarischen) Handels erfasst. Als Partei sehen wir uns damit mit der Möglichkeit aber auch mit dem Erfordernis konfrontiert, durchgestochen über alle Ebenen des Handelns der Partei in diesem Bereich zu agieren, d.h. konkrete Alternativen zu entwickeln und die entsprechende Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger zu organisieren.

Lasst uns hier aber auch ganz klar unterstreichen: natürlich wird es eben auch für Akteure unserer Partei auf den unterschiedlichen Handlungsebenen - im Europäischen Parlament, im Bundestag und in den Landtagen auf grid unterschiedlicher Sichtweisen aus der jeweiligen Entscheidungsebene heraus unterschiedliche Positionierungen geben können und müssen. Denn die Perspektive aus der Gesamtsicht der EU 27 kann sich für Kohäsion anders darstellen als aus Sicht Thüringens, Hessens oder auch Brandenburgs... und das ist normal. Aber wir müssen um diese Differenzierungen und Problematiken wissen und diese für linke Politik produktiv machen.

Die dritte Neuerung des Vertrages führt mich unmittelbar zu meinem eigentlichen Thema, der territorialen Kohäsion. Artikel 3, Abs. 3 (EUV) fixiert im Hinblick auf das Ziel der Verringerung bestehender Unterschiede im Entwicklungsstand in der EU erstmalig den rechtlichen Gestaltungsauftrag der Kohäsionspolitik hinsichtlich eines „territorialen Zusammenhalts“. Diesen stellt er gleichrangig neben den langjährigen Fokus des wirtschaftlichen und des sozialen Zusammenhalts. Der Vertrag selbst klärt aber nicht eineindeutig, was darunter zu verstehen ist. Er gibt an dieser Stelle nur vor, dass man ländlichen Gebieten, vom industriellen Wandel betroffenen Gebieten und Gebieten mit schweren und dauerhaften natürlichen oder demographischen Nachteilen (Insel-, Grenz- und Bergregionen) eine besondere Aufmerksamkeit widmen soll.

Das Ergebnis dieser Unschärfen war eine sehr intensive Diskussion in der Grünbuch-Phase, die von der Kommission von Oktober 2008 bis Februar 2009 durchgeführt wurde und viele Fragen mit sich brachte

• z.B. hinsichtlich des Beibehalten des Solidarprinzips der Kohäsionspolitik (sprich also die Frage: wird es bei stagnierenden Mitteln eine Umverteilung der Fördermittel nach einer dann anderen, sich an geographischen Eigenarten anstelle der bisherigen sozio-ökonomischen Indikatoren ausrichtenden Logik geben) aber auch

• z.B. nach dem Beibehalten des Prinzips der geteilten Zuständigkeit zwischen der EU und den Mitgliedstaaten (sprich also die Frage: schafft die EU hier neue Fördertatbestände zu ihren Gunsten).

Unstrittig in dieser Diskussion war, dass es in Europa große territoriale „Ungleichgewichte“ gibt. Je nach Sichtweise und politischer Positionierung wurden die Wurzeln hierfür auf das Naturbedingte reduziert (wobei wir wissen, dass nicht jede dieser Regionen auch arm sein muss oder ist) oder in den gesellschaftlichen Entwicklungen also als Ergebnis auch der konkreten Politik auf der lokalen, der regionalen, der nationalen und/oder der europäischen Ebene festgemacht. Die Probleme sind auf jeden Fall real: sie treten uns auch in Deutschland und sogar in den einzelnen Bundesländer tagtäglich u.a. als Armutsgefälle, als regionale Abwanderung, als ungleiche Chancen beim Zugang zu Arbeit und zur öffentlichen Daseinsvorsorge oder wer es haptischer reflektiert z.B. in Gestalt Tausender Pendler entgegen, die sich jeden Morgen und Abend überwiegend per privatem Verkehrsmittel zur und von der Arbeit quälen.

Das Thema des Raumbezugs ist nach meiner Kenntnis in der Kohäsionspolitik aber nicht neu. Die Stärkung des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts war in der Vergangenheit und ist auch heute immer raumwirksam und erfolgt im Raum, also im Territorium (sei es auf der regionalen oder auch der lokalen Ebene). Was sich verändert hat, ist, dass territoriale Kooperationen und direkt raumbezogene Förderinitiativen in der Praxis der Kohäsionspolitik offensichtlich an Bedeutung gewonnen haben. Das kann in meinem Verständnis auch nicht anders sein, denn Herausforderungen machen ja in der Regel nicht an politisch-administrativen Grenzen halt und über das Erfordernis von Synergien, von Integration und Komplementarität der verschiedenen Ansätze in der Regional- und Strukturförderung haben auch wir in meiner Erinnerung bei unserer letzten Konferenz in Berlin bereits konkret unter dem Aspekt der Kombination der Fördermittel diskutiert.

Diese beiden Erfordernisse führen in der Konsequenz zu durchaus unterschiedlichen Ansätzen politischen Agierens. Der eine Ansatz ist, dass die unter dem Stichwort des territorialen Zusammenhalts vertraglich geforderte neue Ausrichtung der Kohäsionspolitik auf eine bessere Koordinierung aller Politiken mit räumlichen Auswirkungen zielt. Das Ergebnis könnte z.B. eine stärkere Ausrichtung auf sektorübergreifende integrierte Raumentwicklungskonzepte sein, was es in der Praxis bereits im Ansatz gab und im Rahmen der politisch-administrativen Grenzen einer Region / eines Bundeslandes etc. umsetzbar wäre.

Der andere Ansatz würde sich von der politisch-administrativen oder „statistischen“ Definition (auf Basis der Indikatoren) des Territoriums verabschieden, eine funktionale Sicht in den Mittelpunkt stellen und damit in der Konsequenz auf eine Stärkung der interregionalen Zusammenarbeit setzen. Bereits bestehende Beispiele (oder Leuchtturmprojekte) hierfür wären sicherlich die Strategien für die Makroregionen Ostsee oder Donau.

Gehe ich vom Entwurf der entsprechenden Verordnung aus, so scheint sich die Kommission für den letzten Ansatz entschieden zu haben. Ich lass an dieser Stelle mal dahingestellt, dass ich beim Durcharbeiten des Verordnungsentwurfs oft das Gefühl hatte, einen Ideenspickzettel der Kommission vor mir zu haben, nach dem vieles anders gemacht werden soll, aber eigentlich nichts richtig klar ist:

- Die Kriterien für die Bestimmung förderfähiger Regionen sind nicht definiert, wodurch in der Konsequenz auch nicht die „Zielregionen“ klar zu benennen sind

- auch die Regelungen, die letztlich EU-weit Einheitlichkeit bei der Anwendung sichern sollen, liegen nicht im Ansatz vor, sondern sollen im Rahmen delegierter Rechtsakte später bestimmt werden. Es hat das „Geschmäckle“ als wolle man gerade mal austesten, wie weit man gehen könne; die konkrete Ausformung reicht man dann später nach.

Trotzdem lässt sich selbstverständlich die Richtung identifizieren und die heißt: keine Ableitung neuer Fördertatbestände aus den geographischen Eigenheiten einer Region sondern Abzielen auf den Ausbau der neuen Formen regionaler Partnerschaft. Der Verordnungsentwurf nennt im Kern drei Formen der territorialen Zusammenarbeit, die ab 2013 im Kontext des territorialen Zusammenhalts gefördert werden sollen und für die man nach heutigen Planungsansätzen ca. 3,48 Prozent der insgesamt 376 Mrd. EUR Kohäsionsmittel (2014 – 2020) bereitstellen will, d.h. wir reden EU-weit über ca. 11,7 Mrd. EUR.

Die erste Förderkategorie ist die „grenzübergreifende“ Zusammenarbeit, für die ca. 8,6 Mrd. EUR ausgewiesen werden und mit der man allgemein die Begegnung gemeinsamer Herausforderungen und das Ausschöpfen bisher nicht genutzter Potenziale in Grenzregionen verbindet. Die zweite Förderkategorie, die „transnationale“ Zusammenarbeit zielt auf die integrierte Entwicklung transnationaler Entwicklungskorridore u.a. in den Bereichen Verkehr, Innovation, Infrastruktur. Für sie sind 2,4 Mrd. EUR vorgesehen, wobei es Stand heute so aussieht, dass man diese Mittel hinsichtlich ihrer Zweckbestimmung zu den 40 Mrd. EUR hinzuzählen muss, die bereits unter dem Stichwort „Connecting Europe“ von der Kommission zentral „verplant“ wurden. Die dritte Kategorie läuft unter der Überschrift „interregionale“ Zusammenarbeit, hat eigentlich gar keinen Raumbezug sondern soll EU-weit der Organisation von Erfahrungsaustauschen und Forschungskooperationen dienen. Hiefür sind in der Summe 0,7 Mrd. EUR vorgesehen.

Den Kohäsionsspezialisten wird sicherlich unschwer auffallen, dass hier offensichtlich die INTERREG A bis C Förderungen fortgeschrieben werden. Neu in der Verordnung ist, dass die Kommission über alle drei Kategorien hinweg plant, die Förderung in sogenannten Drittländern, d.h. auch außerhalb der EU zulassen will. Formal wird dieses an einen nachweislichen Nutzen für die betreffenden Regionen gebunden, real kann allerdings den Willen erkennen, zugleich Hebeleffekte im Kontext der Nachbarschaftspolitik (ENI) bzw. des Heranführungsinstruments IPA zu erzeugen.

Gerade dieser Aspekt ist für mich ein konkretes Beispiel dafür, worauf wir uns einstellen müssen, wenn die Kommission von einer konkreten Bindung der Kohäsionspolitik an die EU2020 Strategie spricht. Der Verordnungsentwurf macht hier nicht nur konkreten thematische Vorgaben sondern verkoppelt dies mit anderen Politikbereichen und kündigt zugleich an, die Bedingungen für die Auswahl von Vorhaben zu präzisieren und zu verschärfen und auf der Basis noch festzulegender Indikatoren regelmäßiger (Stand heute jährliche) Fortschrittskontrollen durchzuführen. Vielleicht kommen wir auf die sich damit ergebende Frage nach dem Wechselverhältnis von Kommissions-Zentralismus und Durchsetzung des Subsidiaritätsprinzips nachher noch einmal zurück.

Es ging mir im Rahmen meines Beitrags darum, anhand des vorliegenden Verordnungsentwurfs einen Überblick über den aktuellen Stand zu geben, wie der Gestaltungsauftrag heute angegangen wird. Es gibt sicherlich noch vieles zu ergänzen, trotzdem würde ich hier noch kurz folgendes Fazit versuchen: Die Kommission verbindet Stand heute mit der territorialen Kohäsion keine Abkehr von den bisherigen Eckpfeilern der Strukturfondsförderung und hat über sie auch keine neuen Kompetenzen für sich begründet. Wie auch schon meine Vorredner ausgeführt haben, soll sehr wohl aber mit der neuen Förderperiode das System der Politiksteuerung verändert werden. Hieraus können sich Einschnitte in die bewährte Praxis der Kohäsionspolitik ergeben, die wir konkret verfolgen und berücksichtigen sollten.

Grundsätzlich bleibt, die Kohäsionspolitik wird auch in Zukunft neben der konkreten Politik zum Nutzen der Bürgerinnen und Bürger ein Feld der politischen Auseinandersetzungen um Begrifflichkeiten, um Ziele und Instrumente bleiben, der eine regelmäßige Positionsbestimmung und zugleich auch die Suche und Entwicklung entsprechender Bündnisbeziehungen als Partei erfordert. Darunter wird es nicht zu haben sein und deshalb wäre ich froh, wenn wir es schaffen könnten den bereits mit der letzten Konferenz in Berlin begonnenen Arbeitsprozess in der Partei zu verstetigen.

Vielen Dank

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